Klettern im Schulsport

Warum Klettern in der Schule?

Klettern stellt wie das Laufen, Springen oder Balancieren eine Grundform menschlicher Bewegung dar. Darüber hinaus ist Klettern als ein Grundbedürfnis innerhalb der kindlichen Entwicklung anzusehen. Der Handlungssinn des Kletterns liegt darin, "sich vom Erdboden weg in verschiedene Bewegungsrichtungen, meist in die Vertikale, zu bewegen und gegen die Einwirkung der Schwerkraft seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Hierbei kommt der Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Bewegung eine große Bedeutung zu" (WITZEL 1998, 133). Schon aus dieser kurzen Beschreibung des Kletterns eröffnen sich für den Schulsport zahlreiche Erlebnis- und Erfahrungsmöglichkeiten. Zusammengefasst lassen sich vier komplexe und wechselseitig wirkende Bereiche differenzieren:

Der motorische Bereich ist unterschiedlich geprägt durch die Anwendung von bestimmten elementaren und speziellen Klettertechniken, durch teilweise akrobatisch und ästhetisch anmutende Bewegungen. So weit wie möglich hinaufzuklettern und schwierige Kletterstellen mit einer kreativen Bewegungsfolge zu überwinden, stellt für viele Kletterer einen besonderen Bewegungsanreiz dar. Vielfältige Sinneswahrnehmungen, erlebnisreiche Bewegungs- und Körperempfindungen sowie bewährte Klettertechniken vermitteln ebenso wertvolle Erfahrungen wie das spielerisch-experimentierende Erproben neuer und ungewohnter Bewegungsformen. Je nach persönlichen Voraussetzungen, Technikkompetenz und Kletterstreckenprofil werden hierbei konditionelle und koordinative Fähigkeiten - insbesondere die Gleichgewichtsfähigkeit - gefordert und gefördert.

Für den psycho-physischen Bereich erlangen die Sensationsgefühle und die persönliche Bewältigung von Grenzsituationen eine besondere Bedeutung. Sich beim Klettern gewissen "Wagnis-Risiko-Situationen" auszusetzen, bei denen man im Falle eines Fehltrittes oder einer falsch gewählten Bewegungshandlung die Kontrolle über seine Position verlieren kann, beinhaltet das Erleben wechselhafter emotionaler Spannungszustände wie Unsicherheit-Sicherheit, Freude-Angst. Eine schwierige Route zu bewältigen, mit vollem Kraftaufwand und dem Einsatz des ganzen Körpers, erhöht bei regelmäßiger Ausübung die körperliche Fitness. Die Muskulatur so einzusetzen, dass Situationen nur mit dem Griff der Hände und bei begrenztem Stand der Füße bewältigt werden, fördert das Vertrauen in das eigene Können und stärkt das Selbstwertgefühl. Beim Klettern sind psychische Stärke wie Mut, Willenskraft, Selbstvertrauen, Konzentration und Entschlossenheit gefragt. Darüber hinaus lässt sich über das Felsklettern Natur in ihrer Schönheit und Vielfalt sinnlich (im wahrsten Sinne des Wortes) "begreifen". Die Folge davon könnte der Beginn bzw. Aufbau einer emotionell tragfähigen Beziehung zu natürlichen Lebens- und Bewegungs- räumen sein.  

Der verantwortungsethische Bereich ergibt sich aus der Tatsache, dass das Klettern eine ernsthafte Bewährungsprobe darstellt. Verantwortliches Handeln nicht nur theoretisch abstrakt im Rahmen von Gesprächssituationen zu reflektieren, sondern "echt" und lebensnah zu erfahren, kennzeichnet den herausragenden Stellenwert dieses Bereiches. Verantwortungsübernahme im Kletteralltag wird über viele Anlässe konkret eingefordert (Material- und Knotenkontrolle, Partnersicherung, Teilsperrung bebrüteter Felsmassive akzeptieren etc.). Die Unmittelbarkeit und Überschaubarkeit solcher Situationen vermittelt Kindern und Jugendlichen die praktische Seite von Verantwortung. Gemäß dem Imperativ von HANS JONAS: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind", lernen Heranwachsende zu verstehen, dass jegliches (Nicht-)Handeln unweigerlich Folgen nach sich zieht, für die man sich zu rechtfertigen hat.

Erlebnis- und Erfahrungsbereiche des (Sport-)Kletterns
Es wird deutlich: Je nach Situation oder Aufgabenstellung lässt das Klettern vielfältige Zugangsmöglichkeiten bzw. unterschiedliche Interpretationen für Lehrende und Schüler zu. Im Zentrum der Kletterhandlungen steht das Ringen um Balance im Spiel der körperlichen und psychischen Kräfte. Beim Klettern hat die Suche nach dem Gleichgewicht überall Priorität und ist durch scheinbare Gegensätzlichkeit gekennzeichnet: Zweckorientierte Klettertechniken und verspielte Bewegungsformen, Anstrengung und Ruhe, Können und Nicht-Können, Risiko und Sicherheit, Freiheit und Grenzen, Ichbezogenheit und Sozialbezug, positive und negative Gefühle, Gespräch und Sprachlosigkeit, Verstehen und Missverstehen, verantwortliches und unverantwortliches Handeln. So gesehen können über das Klettern nicht nur motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten für ein lebenslanges Sporttreiben vermittelt werden. Zugleich besteht für den Schulsport die Chance, durch das Klettern erzieherisch bedeutsamen Aufgaben nachzukommen. Dies kann ohne eine übersteigerte Form von pädagogischer Instrumentalisierung geschehen, da der Zugang immer über körper- und bewegungsbezogene Kletterhandlungen erfolgt: Wer gerne in der Natur klettern möchte, erhält im Schulsport die (Lern-)Gelegenheit, sich ökologisch bewusster und sensibler in Naturräumen zu bewegen. Wer es bevorzugt, gemeinsam mit anderen auf Klettertour zu gehen, erhält im Schulsport die (Lern-)Gelegenheit, soziale Handlungsweisen wie Mitverantwortung, Kooperation und Einfühlungsvermögen zu zeigenund weiterzuentwickeln. Wer sein Hauptinteresse darin sieht, seinen persönlichen Schwierigkeitsgrad beim Klettern zu verbessern, erhält im Schulsport die (Lern-)Gelegenheit, Erfahrungen mit der eigenen Leistungsstärke zu sammeln sowie die Leistungsfähigkeit anderer zu respektieren. Klettern in der Schule kann somit auch seinen Teilbeitrag leisten, Kinder und Jugendliche insbesondere "zur Mündigkeit im Umgang mit sich selbst und mit der Welt" hinzuführen (BALZ 1992, 19).